11.8., Der Fahrradunfall

Das Aufstehen fällt heute nach nur fünf Stunden Schlaf erwartungsgemäß etwas schwerer, und ich wälze mich noch bis 7 in meinem Bett rum. Das darf ich aber, denn ich habe die Hausaufgaben diesmal komplett fertig und muss mir lediglich noch schnell die 20 neuen Vokabeln merken. Es ist zwar eigentlich gemogelt, diese einfach nur vor dem Unterricht schnell ins Kurzzeitgedächtnis zu packen, aber so habe ich bei den allmorgentlichen Vokabeltests so gut wie immer alles richtig :-).

Heute steht eine grammatische Konstruktion auf dem Programm, die wohl am ehesten mit einem Relativsatz im Deutschen vergleichbar ist. Santo san ist ein Mann, der gerade ein Buch liest: santo san wa ima hon o yomu hito desu, Santo san [Thema des Satzes] jetzt Buch [Akkusativobjekt] lesen(niedrige Stufe) Mensch ist(mittlere Stufe). Grammatik ist zumindest in der Theorie kein Problem für mich; schließlich hab ich schon über 10 Programmiersprachen gelernt, da sind die echten auch nicht so viel schwieriger. Das Problem sind nach wie vor die Vokabeln und vor allem, die ganzen verschiedenen Verbformen in Echtzeit aus der Grundform abzuleiten. Und beim Hören ist es noch schwieriger: Wenn ich yomu höre, brauche ich immer eine halbe Sekunde, bis ich das auf das yomimasu zurückgeführt habe, das ich als Verb für "lesen" gelernt habe.

Lustigerweise ist übrigens yomu die Form, die im Wörterbuch steht. Das Lehrbuch, das wir hier verwenden (Minna no Nihongo), hat die Wörterbuchform der Verben, also den Infinitiv, aber erst in Kapitel 18 eingeführt, und nach wie vor lernen wir alle neuen Verben in der masu-Form, also in der Nichtvergangenheit auf mittlerer Höflichkeitsstufe. Das hat zwei Vorteile: Zum Einen ist dies die Form, die man braucht, wenn man mit Japanern, die man nicht so genau kennt, eine höfliche Unterhaltung führen will, also das, was für den Touri am wichtigsten ist. Zum Anderen ist der Infinitiv weniger eindeutig: Verschiedene Verben können im Infinitiv gleich aussehen. Beispiel: iru ist der Infinitiv von imasu (sein, sich befinden, nur für Lebewesen) und von irimasu ([ein Visum] benötigen).

Der Nachteil dieser Lehrmethode ist, dass man weniger geübt im Umgang mit dem Infinitiv ist. Der Infinitiv kommt aber sowohl im informellen Japanisch als auch in Nebensätzen und gewissen anderen Konstruktionen andauernd vor, sodass ich immer überlegen muss, wenn ich einen etwas komplizierteren Satz zusammenschrauben will, beziehungsweise Schwierigkeiten habe, gesprochene kompliziertere Sätze zu verstehen. Deshalb glaube ich übrigens, dass Hikaru no Go eine gute Übung ist, um mein Hörverständnis zu verbessern, denn die Jungs unterhalten sich untereinander natürlich nur in informellem Japanisch.

Der Hörtest verläuft heute weniger frustrierend. Schon komisch, wie die Tagesform variiert; diesmal krieg ich das meiste mit. Ganz faszinierend ist eine Übung, bei der irgendeine erfundene(?) Statistik über das Freizeitverhalten japanischer Jugendlicher vorgelesen wird und man in einem Lückentext mal eine Prozent-Zahl, mal die Bezeichnung einer Tätigkeit ergänzen muss. Faszinierend deshalb, weil ich bereits im ersten Anlauf alle Fragen (denke ich) richtig an Hand des mit voller Geschwindigkeit und ohne Pause vorgelesenen Textes beantworten kann, ich aber trotzdem irgendwie nur jedes zweite Wort verstanden habe. Es kommt mir irgendwie vor wie mogeln, dass ich zwar fast nichts verstanden, aber doch im Test (wahrscheinlich; ich krieg ihn in der nächsten Stunde korrigiert zurück) alles richtig habe.

Am Nachmittag spiele ich in der Bar wieder ganz viel Go mit Anfängern und wundere mich, dass Mike um 17 Uhr gar keine Anstalten macht, uns rauszuwerfen. Des Rätsels Lösung: Morgen und Übermorgen sind Feiertage, also wird der Mittwoch hinsichtlich der Öffnungszeiten wie ein Freitag behandelt, und morgen hat die Bar zu. Na dann kann ich ja auch Bier trinken, denk ich mir.

Abends leihe ich mir das Spielmaterial aus in der Hoffnung, vielleicht im Wohnheim doch noch jemanden zum Spielen zu finden. Neulich, als ich den Go-Kanal im Fernsehen angschaut habe, hat mir einer erzählt, dass er auch spielt; ich habe ihn aber seitdem nicht gesehen und ihn auch nicht nach seiner Zimmernummer gefragt.

Als ich so gegen 21 Uhr nach Hause radle, passiert es. Ich fahre die letzten 100 Meter vor dem Wohnheim immer auf der rechten Straßenseite, weil links ein enger Gehweg mit Geländer ist, und man dort an eventuellen Fußgängern schlecht vorbeikommt. Außerdem habe ich in den letzten Wochen ausgiebig die Japaner beobachtet, und die fahren auch alle mal rechts, mal links, wie es ihnen gerade passt. Da die Radfahrer eh auf dem Gehweg fahren, sollte es ja verkehrstechnisch auch eigentlich egal sein.

Ist es aber nicht. Denn bei Linksverkehr muss man logischerweise beim Linksabbiegen nicht so sehr auf Gegenverkehr achten. Ich überquere gerade eine Querstraße, als mir ein Motorroller entgegen kommt. Ich denke noch, der wird doch jetzt nicht wirklich, weiche noch ein Stück nach rechts aus und BUMS lieg ich auf der Straße. Instinktiv habe ich mich im Fallen so gedreht, dass der Rucksack mit der teuren Kamera, den Go-Steinen und dem elektronischen Wörterbuch, alles in allem also an die 2000 Euro, keinen Schaden nimmt. Was leider bedeutet, dass ich voll auf die rechte Schulter gekracht bin. Ich bleibe verdutzt eine Weile liegen, wohl irgendwie leicht im Schock, und überlege mir, was mir jetzt gerade am meisten weh tut und wie doll.

Der Japaner hat es geschafft, mit seinem Motorroller nicht zu stürzen, sondern mich anscheinend irgendwie nur gestreift. Er ergießt einen Redeschwall über mich, der überwiegend Besorgnis auszudrücken scheint und nicht wütend klingt, von dem ich aber außer der immer wieder zwischendurch geäußerten Frage daijoobu (alles in Ordnung?) nichts verstehe.

Ich rapple mich auf und stelle fest, dass ich abgesehen von der doch recht deutlich schmerzenden Schulter erstaunlich unverletzt bin. Eine kleine Abschürfung am linken Handgelenk, ein Kratzer am linken Knie, ein schmerzendes rechtes Knie, an dem sich später ein hübscher blauer Fleck entwickelt. Und die hübschen, nagelneuen Go-Bretter liegen natürlich auf der Straße; sie waren in dem großen, praktischen Lenkerkorb. Der Japaner hilft mir noch, das Schutzblech so zurechtzubiegen, dass man wieder fahren kann, und nach zigfacher Beteuerung, dass wirklich alles in Ordnung ist, fahre ich die letzten 50 Meter zum Wohnheim, wo ich unverzüglich ins Bett falle. Anscheinend bin ich doch noch ziemlich durcheinander.

 

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©2004 by Harald Bögeholz